Richard J. Bloomfield: Mauerfall – I

Wahrscheinlich kennen Sie die CBS-TV-Serie „You Are There“ nicht, wenn Sie nicht in den USA aufgewachsen sind. Der bekannte und beliebte Nachrichtensprecher Walter Cronkite moderierte in dieser Sendung die Nachstellungen historischer Ereignisse, als wären sie Teil seiner regelmässigen Nachrichtensendungen. Am Ende der Sendung fasste Conkhite den Inhalt der Episode zusammen und sagte als Schlusswort: „Was war das für ein Tag? Ein Tag wie alle Tage, erfüllt von Ereignissen, die unsere Zeit verändern und erhellen … alles ist wie damals, ausser dass du dabei warst.“

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Nur drei Tage später flog ich mit Freunden nach Berlin, um es mir selbst anzusehen. Ich war dabei, als Geschichte geschrieben wurde. Es war keine TV-Nachstellung eines historischen Ereignisses. DU BIST DABEI! Diese Worte gingen mir während der zwei Tage, die ich an diesem Novemberwochenende in Berlin verbrachte, immer wieder durch den Kopf. Die Worte des folgenden Textes können die Intensität dessen, was ich erlebt habe, nicht vollständig wiedergeben. Auch heute – 35 Jahre später – kann ich immer noch nicht daran denken, was ich dort in West- und Ost-Berlin gesehen und gehört habe, ohne emotional zu werden.

Erstmals schaute ich über die Berliner Mauer von West nach Ost im Herbst 1983.
Ostdeutsche Grenzsoldaten beobachten meine fotografische Tätigkeiten im Westen.

Im sogenannten „Lutherjahr“ zum 500. Geburtstag des Reformators Martin Luther war ich im Herbst 1989 zum ersten Mal in Berlin gewesen. Dieser war der erste von acht Besuchen in der Deutschen Demokratischen Republik, die ich in den sechs Jahren vor dem Fall der Berliner Mauer machen würde. Reisen in die DDR waren mit viel Bürokratie verbunden: Visum beantragen, Reisepass und Visum prüfen lassen, an der Grenze die Zählkarte ausfüllen, sich nach der Ankunft bei der Polizei melden, für jeden Tag des Aufenthalts 25 Westmark in 25 Ostmark umtauschen, sich am Ende des Aufenthalts erneut bei der Polizei melden, um ein Ausreisevisum zu erhalten. Der Umgang mit ostdeutschen Beamten war auch oft einschüchternd.

Die nötigen Einträge und Stempel in meinem Pass für nur einen Besuch in der DDR.

Alle, die ich in Ostdeutschland getroffen habe, hätten gerne sogar noch mehr Bürokratie und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ertragen, wenn das bedeutet hätte, dass sie hätten frei reisen könnten. Schon der Besitz eines Reisepasses war ein Privileg. Und wer das Glück hatte, eine Reiseerlaubnis in den Westen zu bekommen, stand während seines Aufenthalts fast immer unter Beobachtung. Ostdeutsche bezeichneten ihr Land oft als ein Freiluftgefängnis – wenn sie sicher waren, dass die Staatssicherheit ihnen nicht zuhörte. Diejenigen von uns, die schon immer die Möglichkeit hatten, frei an jeden beliebigen Ort zu reisen, können sich nicht ganz vorstellen, wie es ist, wenn diese Freiheit fehlt.

Erich Honecker hatte in den Monaten vor November 1989 gesagt, dass „die Mauer auch in 50 und sogar in 100 Jahren noch stehen wird …“. Zu der Zeit als Honecker diesen Satz sagte, flüchteten die Ostdeutschen in Scharen aus Perspektivlosigkeit in den Westen mit einem Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Als der Erste Bezirksstaatssekretär in Berlin Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz verkündete, dass die Reisebeschränkungen sofort aufgehoben würden, trauten die Menschen ihren Ohren kaum. Eine bei dieser Konferenz tätige Übersetzerin war sich sicher, dass sie Schabowski falsch verstanden hatte und zögerte, seine Aussage zu übersetzen. Sie hatte Angst, dass sie es tatsächlich nicht richtig verstanden hatte und dass die Übersetzung einer falschen Aussage Nachwirkungen haben könnte. Sie hatte aber richtig gehört!

Die unerwartete Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer! Die Menschen strömten zur Grenze. Meine Freunde und ich standen am Samstagabend lange Zeit auf der Westseite der Mauer am Potsdamer Platz und sahen zu, wie die Ostdeutschen Teile der Mauer abrissen. Als wir am Sonntag zurückkamen, waren wir Teil einer grossen Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um das historische Ereignis mitzuerleben: den freien Übertritt der Ostdeutschen in den Westen. Zahlreiche Journalisten drängten sich gegenseitig um den besten Blickwinkel zu bekommen. Einige von ihnen steckten den Menschen buchstäblich ihre Kameras ins Gesicht. Zeitweise musste die West-Berliner Polizei die Kameraleute abziehen – was von Beobachtern mit Applaus begrüsst wurde. Die Journalisten kamen mir manchmal wie Voyeure vor. Ich fand, sie würden sich in die intimen Momente des Wiedersehens mit Verwandten, die sich vielleicht Jahrzehnte lang nicht gesehen hatten, eindrängen.

Der neu eröffnete Grenzübergang am Potsdamer Platz am 13. November 1989.

Noch heute wenn ich an das denke, was wir an jenem November-Sonntag gesehen haben, bekomme ich Gänsehaut. Die Tränen, die Freude, das Lachen der frisch befreiten Ostdeutschen hinterliessen einen bleibenden Eindruck. Ich habe einen Technicolor-Film mit Dolby-Sound vor Augen und in den Ohren, wo Ossis voller Emotionen Freunde und Verwandte umarmen und Blumen, Süssigkeiten und Kaugummi als Willkommensgeschenke bekommen. Die Beobachter aus aller Welt applaudierten immer wieder

Damals war Berlin ein einziges grosses Fest mit Millionen von Gastgebern und Gästen. Ossis konnten nichts von ihrem Begrüssungsgeld in der Höhe von 100 D-Mark, das sie von der westdeutschen Regierung erhalten hatten, ausgeben, weil fast alles, was sie in einer Bar oder einem Restaurant bestellten, von einem Fremden aus dem Westen bezahlt wurde. Immer wieder hörten wir Menschen singen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der wahrscheinlich nie vergeh’n.“ Die nächsten Zeilen lauten jedoch: „Und wer weiss, wann wir uns wiederseh’n.“ Die Zukunft war alles andere als sicher.

Ostdeutsche stehen Schlange vor der Bank, um ihr Begrüssunsgeld zu bekommen.